Scientific Kalender September 2019
Emicizumab – Ein Medikament der jüngsten Generation zur Behandlung der Hämophilie A
Welches ist derzeit der einzige Assay-Typ, der eingesetzt werden kann, um die Emicizumab-Konzentration zu bestimmen?
aPTT-basierter Einstufen-Faktor-VIII-Assay
Chromogener Faktor-VIII-Assay mit humanen Koagulationsfaktoren, z. B. BIOPHEN™ Faktor VIII:C
Chromogener Faktor-VIII-Assay mit bovinen Koagulationsfaktoren, z. B. SIEMENS Chromogener Assay zur Faktor-VIII-Aktivität
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Wissenschaftlicher Hintergrund
Hämophilie A (HA) ist eine vererbbare Erkrankung der plasmatischen Gerinnung, die durch eine funktionelle Defizienz oder das komplette Fehlen des Gerinnungsfaktors VIII (FVIII) verursacht wird. Die X-chromosomal-rezessiv vererbte Hämophilie A ist die häufigste erbliche Blutgerinnungsstörung. Unabhängig von der ethnischen Abstammung kommt etwa einer von 5.000 männlichen Neugeborenen mit Hämophilie A zur Welt. [1] Die Schweregradeinteilung der HA basiert auf der endogenen Faktor-VIII-Restaktivität (Tabelle 1).
Tabelle 1 Schweregrade der Hämophilie [2]
Schweregrad | Faktoraktivität | Blutungsneigung |
Schwer | < 1 % der normalen Aktivität (< 0,01 IE/ml) | Spontane Gelenkeinblutungen, Muskeleinblutungen, Blutungen im Gastrointestinaltrakt |
Mittelschwer | ≥ 1 bis 5 % der normalen Aktivität (≥ 0,01 to 0,05 IE/mm) | Selten spontane Gelenkeinblutungen, hauptsächlich Blutungen nach Verletzung |
Leicht | ≥ 5 bis 40 % der normalen Aktivität (≥ 0,05 to 0,40 IE/mm) | Blutungen nach Verletzung oder chirurgischem Eingriff, selten Blutungsneigung im Alltag |
Obgleich der Blutungs-Phänotyp selbst bei schwerer Hämophilie sehr heterogen sein kann, reflektiert diese Klassifizierung den Schweregrad der klinischen Symptome, wobei sich spontane Gelenk- und Muskeleinblutungen weitgehend auf Patienten mit schwerer Hämophilie beschränken. [3]
Im Laufe der Jahrzehnte haben sich die Strategien zur Behandlung der HA verändert und Verbesserungen für die Betroffenen gebracht. In den letzten Jahren waren (rekombinante) FVIII-Konzentrate das Arzneimittel der Wahl. Mit Emicizumab steht heute eine neue Generation von HA-Präparaten zur Verfügung.
Emicizumab ist ein humanisierter, modifizierter monoklonaler Immunglobulin-G4(IgG4)-Antikörper mit bispezifischer Antikörperstruktur. Emicizumab übernimmt bei Patienten mit HA die Cofaktor-Funktion des fehlenden aktivierten Faktor VIII (FVIIIa), indem es aktivierten Faktor IX (FIXa) und Faktor X (FX) verbindet und so die Blutgerinnung weitestgehend normalisiert. Emicizumab ist als Routineprophylaxe von Blutungsereignissen bei Patienten (Erwachsene sowie Kinder aller Altersgruppen, d. h. Neugeborene und älter) mit Hämophilie A mit und ohne Faktor-VIII-Hemmkörpern indiziert und wird angewendet, um Blutungsepisoden zu verhindern oder ihre Häufigkeit zu reduzieren. Emicizumab hat keine strukturelle Beziehung oder Sequenzhomologie zu FVIII, sodass es die Entwicklung direkter Hemmkörper gegen Faktor VIII weder auslöst noch verstärkt. [4, 5]
Anwendung von Emicizumab in der klinischen Praxis
Nach einer initialen wöchentlichen Dosis von Emicizumab über einen Zeitraum von vier Wochen kann auf eine Erhaltungsdosis alle zwei oder vier Wochen umgestellt werden. [4] Obgleich Emicizumab die Häufigkeit von Blutungsereignissen signifikant reduziert, können Blutungsepsioden unter bestimmten Bedingungen persistieren und eine zusätzliche Behandlung mit Bypassing-Präparaten, z. B. aktiviertes Prothrombinkomplex-Konzentrat (aPCC, FEIBA®, Shire, Dublin, Irland), oder mit rekombinantem, aktiviertem FVII (rFVIIa, NovoSeven®, Novo Nordisk, Bagsværd, Dänemark) oder (rekombinanten) FVIII-Konzentraten erforderlich machen. Die Therapie mit Emicizumab in Kombination mit aPCC ist mit thrombotischer Mikroangiopathie (TMA), Venenthrombose und Hautnekrose assoziiert. [6] Bei der Therapie mit Emicizumab in Kombination mit rFVIIa oder mit FVIII-Konzentraten wurden bis dato keine vergleichbaren Nebenwirkungen beobachtet. Die Mechanismen, die eine TMA und eine Hautnekrose auslösen, sind jedoch nicht geklärt. Eine parallele Behandlung mit Bypassing-Präparaten sollte daher sorgfältig abgewogen oder vorzugsweise 24 Stunden vor Einleitung der Therapie mit Emicizumab beendet werden. [7]
Die Bildung von Anti-Drug-Antikörpern (ADA) wird häufig beobachtet (z. B. im Zusammenhang mit monoklonalen Antikörpern), und die Gegenwart von ADA kann die Pharmakokinetik (PK) und/oder die Pharmakodynamik (PD) von Emicizumab verändern, die Wirksamkeit des Arzneimittels beeinflussen und die Sicherheit des Patienten beeinträchtigen. Im Verlauf bestimmter klinischer Studien (z. B. HAVEN 1 – 4), aber auch bei der ersten Routineanwendung wurden mehrere Fälle von ADA-positiven Patienten berichtet. Obgleich die meisten der ADA vorübergehend waren, wurden einige der ADA als ADA mit neutralisierendem Potenzial klassifiziert, die zum Verlust der Wirksamkeit von Emicizumab und damit zum Abbruch der Behandlung führten. [8]
Eine regelmäßige Überwachung von HA-Patienten unter Therapie mit Emicizumab ist nicht erforderlich. [4] Aufgrund der langen Halbwertszeit des Arzneimittels sollten die in den relevanten Leitfäden und Dokumenten beschriebenen Anwendungsempfehlungen bis sechs Monate nach der letzten Dosis eingehalten werden. [4] Entsprechend sind nach der letzten Dosis von Emicizumab möglicherweise zusätzliche Labortests zur Arzneimittelüberwachung erforderlich.
Anwendung von Emicizumab in der Laborpraxis
Die Anforderungen an ein Labor für die Testung der Arzneimittelaktivität von Emicizumab sind eine Herausforderung. Die aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) oder die aktivierte Gerinnungszeit (aCT) werden unter Therapie mit Emicizumab übermäßig verkürzt, was keine Aktivierung durch Thrombin erfordert. Mit aPTT-basierten Einstufen-FVIII-Assays wird bei HA-Patienten unter Emicizumab eine normale oder stark erhöhte FVIII-Aktivität gemessen. [4, 9] Dieses Problem kann jedoch überwunden werden, indem der Assay mit einem im Handel erhältlichen Emicizumab-Kalibrator in einem modifizierten FVIII-Gerinnungs-Assay kalibriert wird. [10]
Als eine geeignete Alternative zu aPTT-basierten Faktor-Assays könnten Einzelfaktor-Assays, die chromogen- oder immunbasierte Methoden anwenden, zur Überwachung der Gerinnungsparameter während der Behandlung eingesetzt werden. Chromogene FVIII-Assays werden mit humanen oder mit bovinen Koagulationsfaktoren hergestellt. Beide Assay-Typen reagieren jedoch unterschiedlich auf Emicizumab.
Da chromogene FVIII-Assays mit humanen Koagulationsfaktoren, z. B. BIOPHEN™ Faktor VIII:C (HYPHEN BioMed [ein Unternehmen der Sysmex Group], Neuville-sur-Oise, Frankreich), sensitiv für Emicizumab sind, ist dieser Assay-Typ derzeit der einzige, der zur Bestimmung der Emicizumab-Konzentration eingesetzt werden kann. Allerdings müssen die Ergebnisse sorgfältig geprüft werden, da dieser Assay-Typ den wahren hämostatischen Effekt von Emicizumab in vivo überschätzen kann, insbesondere bei der Bestimmung der endogenen oder infundierten FVIII-Aktivität in Gegenwart von Emicizumab. [4, 11]
Chromogene FVIII-Assays mit bovinen Koagulationsfaktoren, z. B. SIEMENS Chromogener Assay zur Faktor-VIII-Aktivität (SIEMENS Healthineers, Erlangen, Deutschland), sind dagegen nicht sensitiv für Emicizumab und können bei Patienten unter Kombinationstherapie mit Emicizumab und FVIII-Konzentraten zur Bestimmung der endogenen oder infundierten FVIII-Aktivität eingesetzt werden. [4, 12] Da Emicizumab durch FVIII-Hemmkörper nicht inaktiviert wird und in Bethesda-Assay falsch-negative Ergebnisse generiert, können bei Patienten mit Hemmkörpern gegen FVIII auch bovin-basierte chromogene FVIII-Assays verwendet werden. [4] Alternativ kann ein modifizierter BIOPHEN™ FVIII:C Assay, in dem humanes FX durch bovines FX ersetzt wurde, verwendet werden. [13]
Derzeit sind im Handel keine Assays zum Nachweis von ADA gegen Emicizumab erhältlich. Gleichwohl können chromogene FVIII-Assays mit humanen Koagulationsfaktoren, aPTT-basierte Assays und/oder aPTT-basierte Einstufentests, die zur Bestimmung der Emicizumab-Konzentration eingesetzt werden, auch den Nachweis von ADA erbringen. Wird unter Emicizumab ein ADA-bedingter Wirksamkeitsverlust berichtet und ergeben diese Tests eine verlängerte aPTT und/oder eine erniedrigte FVIII-Aktivität, so deutet dies auf die Gegenwart von neutralisierenden ADA gegen Emicizumab hin. [9]
Tabelle 2 fasst die verfügbaren HA-Assays und ihre Anwendbarkeit bei HA-Patienten unter Therapie mit Emicizumab zusammen. Tabelle 3 fasst den Einfluss von Emicizumab auf andere Assays zusammen.
Tabelle 2 Anwendbarkeit von HA-Labortests bei Patienten unter Therapie mit Emicizumab [4, 10]
Assay | Empfohlene Anwendung bei Patienten unter Therapie mit Emicizumab |
aPTT |
|
aPTT-basierter Einstufen-FVIII-Assay |
|
aPTT-basierte Bethesda-Assays |
|
Aktivierte Gerinnungszeit (aCT) |
|
Bovin-basierter, chromogener FVIII-Assay |
|
Chromogener FVIII-Assay mit humanen Koagulationsfaktoren |
|
|
|
Tabelle 3 Einfluss von Emicizumab auf andere Assays [10, 11]
Assay | Einfluss auf Ergebnisse |
Fibrinogen (Clauss) | - |
Thrombinzeit | - |
aPTT-basierter Einstufen-Faktor-IX-Assay | ↑↑ |
Chromogener Faktor-IX-Assay | - |
aPTT-basierter Einstufen-Faktor-XI-Assay | ↑↑ |
aPTT-basierter Einstufen-Faktor-XII-Assay | ↑↑ |
Protein-C-Assay (Gerinnungstest) | ↓↓ |
Chromogener Protein-C-Assay | - |
Protein S-Assay (Gerinnungstest) | ↓ |
Assay zur Bestimmung des freien Protein-S Antigens | - |
dVRRT-Assays | - |
Prothrombinzeit | - |
PT-basierter Einstufen-Faktor-II-Assay | - |
PT-basierter Einstufen-Faktor-V-Assay | - |
PT-basierter Einstufen-Faktor-VII-Assay | - |
PT-basierter Einstufen-Faktor-X-Assay | - |
Chromogene Faktor-XIII-Assays | - |
Assays zur Bestimmung der Anti-Faktor Xa-Aktivität | - |
Antithrombin-Assays | - |
Assays zur Bestimmung der Plasminogenaktivität und des Plasminogenantigens | - |
D-Dimer-Assay | - |
Assays zur Bestimmung der vWF-Aktivität und des vWF-Antigens | - |
↑↑ Schwere Überschätzung
↑ Überschätzung
- ohne Einfluss
↓ Unterschätzung
↓↓ Schwere Unterschätzung
Referenzen
[1] Mannucci PM, Tuddenham EG. The hemophilias – from royal genes to gene therapy. N Engl J Med. 2001; 344(5):1773–1779.
[2] White GC, Rosendaal F, Aledort LM, Lusher JM, Rothschild C, Ingerslev J. Definitions in Hemophilia. Recommendations of the Scientific Subcommittee on FVIII and Factor IX of the SSC of ISTH. Thromb Haemost 2001; 0:560.
[3] Coppola et al. Treatment of hemophilia: a review of current advances and ongoing issues. Journal of Blood Medicine, 2010; 1:183-195.
[4] Hemlibra® – Product Information. Annex 1 – SUMMARY OF PRODUCT CHARACTERISTICS. European Medicines Agency. EMA/162298/2019. First published: 01.03.2018. Last updated: 05.06.2019.
[5] Hemophilia.org, MASAC Recommendation on the Use and Management of Emicizumab-kxwh (Hemlibra®) for Hemophilia A with and without Inhibitors. December 7, 2018.
[6] Oldenburg J, Mahlangu JN, Kim B et al. Emicizumab Prophylaxis in Hemophilia A with Inhibitors. N Engl J Med. 2017; 377:809‐818.
[7] Collins et al. Treatment of bleeding episodes in haemophilia A complicated by a factor VIII inhibitor in patients receiving Emicizumab. Interim guidance from UKHCDO Inhibitor Working Party and Executive Committee. Haemophilia. 2018; 24:344-347.
[8] Paz-Priel et al. Immunogenicity of Emicizumab in People with Hemophilia A (PwHA): Results from the HAVEN 1-4 Studies. Blood 2018; 132:633.
[9] Hemophilia.org, MASAC Safety Information Update on Emicizumab (HEMLIBRA®). April 24, 2018.
[10] Shinohara et al. Evaluation of Emicizumab Calibrator and Controls with a Modified One-stage FVIII Assay on an Automated Coagulation Analyzer. Poster PB1305 presented at the ISTH congress 2019.
[11] Adamkewicz et al. Effects and Interferences of Emicizumab, a Humanised Bispecific Antibody Mimicking Activated Factor VIII Cofactor Function, on Coagulation Assays. Thromb Haemost 2019; 119:1084-1093.
[12] Hemophilia.org, MASAC Update on the Approval and Availability of the New Treatment: Emicizumab (Hemlibra®), for Persons with Hemophilia A with Inhibitors to Factor VIII: Interim Guidance on Acute Bleed Management and Use of Laboratory Assays. November 24, 2017.
[13] Amiral J et al. FVIII and Variant Chromogenic Assays for Measuring Emicizumab and FVIII Inhibitor Antibodies in Human Plasma. Poster PB0228 presented at the ISTH congress 2019.