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Was wissen wir über die Zukunft?

XTRA-ARTIKEL AUSGABE 2/2023

Healthcare

—2033

Beiträge für die Gesundheitsversorgung kann nur leisten, wer die Zukunft im Blick hat. Aber wie viel haben wir schon im Blick?

Von Martin Rees

Das besondere Jahrhundert

Die Erde existiert seit 46 Millionen Jahrhunderten. Aber dieses Jahrhundert ist etwas Besonderes: Es ist das erste, in dem eine Spezies, nämlich die unsere, die Zukunft des Planeten in der Hand hat. Wir befinden uns mitten in dem, was manche das „Anthropozän“ nennen. Doch konzentrieren wir uns zunächst auf zwei Dinge, die wir selbst mit einer trüben Kristallkugel vorhersagen können. Erstens: Im Jahr 2050 werden noch mehr Menschen auf der Welt leben.

Bevölkerungstrends

Vor 50 Jahren lag die Anzahl der Menschen auf der Welt unter vier Milliarden. Jetzt sind es acht Milliarden. Das Wachstum findet hauptsächlich in Asien und Afrika statt.

Die Zahl der jährlichen Geburten hat weltweit vor einigen Jahren ihren Höhepunkt erreicht und ist inzwischen in den meisten Ländern rückläufig. Dennoch wird die Weltbevölkerung bis 2050 voraussichtlich auf etwa neun Milliarden Menschen ansteigen. Das liegt vor allem daran, dass die meisten Menschen in den Entwicklungsländern heute jung sind und länger leben werden. Das Altershistogramm in den Entwicklungsländern wird dem in Europa ähnlicher werden.

Klimawandel

Die Welt wird also immer dichter bevölkert. Und hier ist die zweite sichere Vorhersage: Es wird wärmer werden. Im Gegensatz zur Bevölkerungsproblematik wird über den Klimawandel keineswegs zu wenig diskutiert, aber es wird zu wenig auf ihn reagiert.

Der sechste IPCC-Bericht (International Panel of Climate Change) enthält eine Reihe von Projektionen für unterschiedliche Annahmen über die künftige Nutzung fossiler Brennstoffe (und den damit verbundenen Anstieg der CO2-Konzentration). Es ist immer noch unklar, inwieweit die klimatischen Auswirkungen von CO2 durch die damit verbundenen Veränderungen bei Wasserdampf und Wolken verstärkt werden – das ist eine weitere Unsicherheit.

Trotz der Unwägbarkeiten gibt es eine Botschaft, der die meisten zustimmen würden: Bei einem „Business ­as usual“-Szenario können wir nicht ausschließen, dass es im Lauf des Jahrhunderts zu einer wirklich katastrophalen Erwärmung kommt und Kipppunkte langfristige Trends wie das Abschmelzen der grönländischen Eiskappe auslösen.

Die Politiker konzentrieren sich auf unmittelbare Bedrohungen wie Covid-19. Den globalen und langfristigen Maßnahmen, die zur Bewältigung des Klimawandels und zum Erhalt der biologischen Vielfalt erforderlich sind, wird jedoch keine Priorität eingeräumt, da ihre schlimmsten Auswirkungen den Zeithorizont politischer und investiver Entscheidungen überschreiten.

Es ist wie mit dem sprichwörtlichen kochenden Frosch, der in einem Warmhaltebecken zufrieden ist, bis es zu spät ist, um sich selbst zu retten. In der Tat stuft die WHO den Klimawandel als die größte langfristige Bedrohung für die globale Gesundheit ein. Und natürlich sind es die Länder, die weit von uns entfernt liegen, die am meisten darunter leiden werden.

Es überrascht nicht, dass es die jungen Menschen sind, die davon ausgehen, dass sie bis zum Ende des Jahrhunderts leben werden, deren Ruf nach Klima- und Umweltschutzmaßnahmen am lautesten ist – und sicherlich auch willkommen. Ihr Einfluss auf die Wähler und die Medien wird durch charismatische Persönlichkeiten verstärkt. Ich möchte hier ein ungleiches Quartett hervorheben: Papst Franziskus, unseren weltlichen Papst David Attenborough, Bill Gates und Greta Thunberg.

Biosphäre

Und noch etwas: Wenn der kollektive Einfluss der Menschheit auf Landnutzung und Klima zu stark wird, könnte der daraus resultierende „ökologische Schock“ unsere Biosphäre irreversibel verarmen lassen. Die Aussterberaten steigen – wir zerstören das Buch des Lebens, bevor wir es gelesen haben.

Die biologische Vielfalt ist entscheidend für das menschliche Wohlergehen. Aber der Reichtum unserer Biosphäre hat auch einen Wert an sich. Um den großen Ökologen E. O. Wilson zu zitieren:

„Das Massenaussterben ist die Sünde, die uns künftige Generationen am wenigsten verzeihen werden.“

Saubere Energiequellen

Aber – um ein wenig gute Laune zu verbreiten – es gibt einen Fahrplan für eine kohlenstoffarme Zukunft, bei dem alle gewinnen. Die Staaten sollten die Forschung und Entwicklung für alle Formen der kohlenstoffarmen Energieerzeugung beschleunigen, ebenso wie bei anderen Technologien, bei denen parallele Fortschritte entscheidend sind – insbesondere bei der Speicherung (Batterien, Druckluft, Pumpspeicher, Wasserstoff) und bei intelligenten transkontinentalen Netzen.

Es gibt wohl kaum eine inspirierendere Herausforderung für junge Ingenieure als die Entwicklung sauberer und wirtschaftlicher Energiesysteme, mit denen die Welt „Netto-Null“ erreichen kann. Wir Wissenschaftler sollten Evangelisten der neuen Technologien werden – ohne sie kann die Welt keine Nahrungsmittel und keine nachhaltige Energie für eine wachsende und immer anspruchsvollere Bevölkerung bereitstellen.

Biotech

Es wird allgemein angenommen, dass das 21. Jahrhundert das Zeitalter der Biotechnologie sein wird. Da ich selbst Physiker bin, muss ich zugeben, dass die Biologie größere Herausforderungen – und größere Möglichkeiten – bietet. Selbst das kleinste Insekt hat eine größere Komplexität als riesige komplexe Maschinen, sogar als Computer.

Die Biotechnologie kann neue Lösungen für die Krisen bieten, die unsere überfüllte Welt bedrohen: effizientere Nahrungsmittelproduktionen (einschließlich der Möglichkeit von ökologisch vorteilhaftem künstlichem Fleisch) und die Beseitigung von Krankheiten. Andererseits kann sie aber auch Schwachstellen schaffen, die uns eine holprige Fahrt durch das Jahrhundert bescheren.

Eine neue Bedrohung ist die Antibiotikaresistenz: Wenn Antibiotika übermäßig eingesetzt werden, können sie ihre Wirksamkeit verlieren, weil ein evolutionärer Druck zugunsten von Bakterienvarianten entsteht, die gegen sie immun sind. Fortschritte in der Mikrobiologie – Diagnostik, Impfstoffe und Antibiotika – bieten die Chance, die Gesundheit zu erhalten, Krankheiten zu kontrollieren und Pandemien einzudämmen. Diese Vorteile haben jedoch einen gefährlichen „Kampf“ der Krankheitserreger selbst ausgelöst. Man befürchtet eine Antibiotikaresistenz, bei der sich Bakterien (durch beschleunigte darwinistische Selektion) so entwickeln, dass sie gegen die zu ihrer Bekämpfung eingesetzten Antibiotika immun werden. Dies hat zum Beispiel zu einem Wiederaufleben der Tuberkulose (TB) geführt. Wenn keine neuen Antibiotika entwickelt werden, wird beispielsweise das Risiko von unbehandelbaren postoperativen Infektionen auf das Niveau von vor einem Jahrhundert ansteigen.

Kurzfristig ist es dringend erforderlich, den übermäßigen Einsatz von Antibiotika zu verhindern – zum Beispiel bei Rindern in den Vereinigten Staaten – und Anreize für die Entwicklung neuer Antibiotika zu schaffen, auch wenn diese für die Pharmaunternehmen weniger profitabel sind als die Medikamente, mit denen langfristige Krankheiten bekämpft werden.

Ein „Schlagzeilen“-Trend in der Biotechnologie sind die stark gesunkenen Kosten für die Sequenzierung des Genoms. Der „erste Entwurf des menschlichen Genoms“ war eine „große Wissenschaft“ – ein internationales Projekt mit einem Budget von drei Milliarden US-Dollar. Doch in weniger als 20 Jahren sind die Kosten auf weit unter 1.000 Dollar gesunken. Bald wird es für jeden von uns Routine sein, das eigene Genom sequenzieren zu lassen – was die Frage aufwirft, ob wir wirklich wissen wollen, ob wir die Gene in uns tragen, die uns eine Neigung zu bestimmten Krankheiten geben.

Die Menschen haben in der Regel ein gewisses Unbehagen gegenüber Innovationen, die „gegen die Natur“ zu sein scheinen und Risiken bergen. Impfungen und Herztransplantationen zum Beispiel haben in der Vergangenheit Kontroversen ausgelöst. In jüngerer Zeit konzentrierten sich die Bedenken auf die Embryonenforschung, Mitochondrien-Transplantationen und Stammzellen. Und obwohl 300 Millionen US-Amerikaner ein ganzes Jahrzehnt lang gentechnisch veränderte Pflanzen ohne offensichtliche Schäden verzehrt haben, gelten in der Europäischen Union immer noch strenge Beschränkungen für sie.

Die Veränderung oder Neugestaltung des Genoms liegt jedoch in weiter Ferne (und ist natürlich auch riskanter und zweifelhafter). Erst wenn dies möglich ist – und wenn die DANN mit der erforderlichen Rezeptur künstlich sequenziert werden kann –, werden „Designer-Babys“ denkbar. Und selbst dann ist Vorsicht geboten, denn Kombinationen von Genen, die es in der natürlichen Welt nie gegeben hat, könnten ungeahnte Nebenwirkungen haben.

Die Fortschritte in der Medizin und der Chirurgie, die wir in den kommenden Jahrzehnten getrost erwarten können, werden als Segen gewertet werden. Sie werden jedoch einige ethische Fragen verschärfen – insbesondere werden sie die Dilemmata vergrößern, die mit der Behandlung von Menschen am Anfang und am Ende ihres Lebens verbunden sind. Eine Verlängerung unserer gesunden Lebensspanne ist zu begrüßen. Problematischer wird jedoch die wachsende Kluft zwischen der Frage, wie lange wir im gesunden Alter überleben werden, und der Frage, um wie viel länger ein bestimmtes Leben durch ex­treme Maßnahmen verlängert werden kann. Viele von uns würden sich dafür entscheiden, auf Wiederbelebungsmaßnahmen zu verzichten und ausschließlich eine palliative Behandlung in Anspruch zu nehmen, sobald unsere Lebensqualität und Prognose unter einen bestimmten Schwellenwert fallen.

Wir fürchten uns davor, noch jahrelang im Griff einer fortgeschrittenen Demenz zu verharren – als Belastung für die Ressourcen und das Mitgefühl der anderen.

Robotik und KI?

Der Computer „Alpha Go Zero“ von Deep Mind hat bekanntlich menschliche Meister in den Spielen Go und Schach geschlagen. Ihm wurden nur die Regeln vorgegeben und er wurde „trainiert“, indem er in nur wenigen Stunden Millionen von Partien gegen sich selbst spielte. Dies waren „übermenschliche“ Leistungen, die durch die größere Geschwindigkeit und Speicherkapazität der Elektronik im Vergleich zu Gehirnen aus Fleisch und Blut ermöglicht wurden.

Aber menschliche Champions haben einige Vorteile. Der Computer verbraucht Hunderte von Kilowatt Strom. Ein menschlicher Spieler verbraucht etwa 30 Watt – nicht mehr als eine Glühbirne – und kann neben dem Spiel noch viele andere Dinge tun.

Schon jetzt kann die KI aufgrund ihrer immer höheren Verarbeitungsgeschwindigkeit besser als der Mensch mit datenreichen, sich schnell verändernden Netzwerken umgehen – dem Verkehrsfluss oder den Stromnetzen. Eine fortschrittliche Nation könnte eine effiziente Planwirtschaft haben, von der Karl Marx nur träumen konnte. Und sie kann auch der Wissenschaft helfen – bei der Faltung von Proteinen, der Entwicklung von Medikamenten und vielleicht sogar bei der Klärung der Frage, ob die Stringtheorie unser Universum wirklich beschreiben kann.

KI-Systeme werden immer aufdringlicher und allgegenwärtiger werden. Aufzeichnungen all unserer Bewegungen, unserer Gesundheit und unserer Finanztransaktionen werden in der „Cloud“ gespeichert und von einem multinationalen Quasi-Monopolisten verwaltet. Die Daten mögen aus guten Gründen verwendet werden (etwa für die medizinische Forschung oder um uns vor beginnenden Gesundheitsrisiken zu warnen), aber ihre Verfügbarkeit für Internetunternehmen verschiebt bereits jetzt das Machtgleichgewicht von Regierungen zu weltumspannenden Konglomeraten. Die digitale Revolution verschafft Innovatoren und globalen Unternehmen enormen Reichtum, aber die Erhaltung einer gesunden Gesellschaft wird sicherlich eine Umverteilung dieses Reichtums erfordern.

Um eine humane Gesellschaft zu schaffen, müssen die Regierungen die Zahl und den Status derjenigen, die sich um Alte, Junge und Kranke kümmern, deutlich erhöhen. Derzeit gibt es viel zu wenige, und sie werden schlecht bezahlt, genießen zu wenig Ansehen und sind in ihrer Position unsicher. Ihre Jobs sind zudem weit anspruchsvoller und erfüllender als die in Callcentern oder in Lagern von Onlineversandhändlern, die gern durch KI verdrängt werden können.

Im Gegensatz zur Durchsetzung der KI erfordern einige qualifizierte Dienstleistungsberufe – beispielsweise Klempner und Gärtner – nichtroutinemäßige Interaktionen mit der analogen Welt und werden zu den am schwierigsten zu automatisierenden Berufen gehören. Eine Ursache dafür ist, dass elektronische Sensoren noch nicht mit biologischen mithalten können. In der Tat sind Roboter noch ungeschickter als ein Kind, wenn es darum geht, Figuren auf einem echten Schachbrett zu bewegen. Sie können nicht wie ein Eichhörnchen von Baum zu Baum springen.

Was sollte uns also am meisten Sorgen bereiten? ChatGPT wird uns sicher mit den Schattenseiten der bestehenden Computer und sozialen Medien konfrontieren, mit gefälschten Nachrichten, Fotos und Videos, unmoderierten extremistischen Hetzreden und so weiter.

In aufgeregten Schlagzeilen haben einige Experten kürzlich vom „Aussterben der Menschheit“ gesprochen. Das mag übertrieben sein, aber der Missbrauch von KI ist mit Sicherheit eine potenzielle gesellschaftliche Bedrohung in der Größenordnung einer Pandemie. Meine Sorge gilt nicht so sehr dem Science-Fiction-Szenario einer „Übernahme“ durch eine Superintelligenz, sondern vielmehr dem Risiko, dass wir – und in der Tat die gesamte wirtschaftliche und soziale Infrastruktur der Welt – von miteinander verbundenen Netzwerken abhängig werden, deren Ausfall einen gesellschaftlichen Zusammenbruch verursachen könnte, der sich global ausbreitet.

Es bedarf einer Regulierung – und Innovationen wie ChatGPT müssen vor einer breiten Einführung gründlich getestet werden, analog zu den strengen Tests von Medikamenten, die der staatlichen Zulassung und Freigabe vorausgehen. Aber die Regulierung ist eine besondere Herausforderung in einem Wirtschaftszweig, der von einigen wenigen großen multinationalen Konzernen beherrscht wird: Genauso wie sie zwischen verschiedenen Rechtssystemen wechseln können, um sich einer gerechten Besteuerung zu entziehen, könnten sie sich auch der Regulierung der KI entziehen.

Weltraum ohne Astronauten

Mein besonderes Interesse gilt dem Weltraum, und ich hoffe, Sie verzeihen mir eine kurze Abschweifung. Die Weltraumtechnologie ist allgegenwärtig: Wir verlassen uns jeden Tag auf sie, wenn es um Satellitennavigation, Kommunikation und Wettervorhersage geht. Und gerade im Weltraum – einer für Menschen lebensfeindlichen Umgebung – haben Roboter den größten Spielraum und werden die wenigsten Probleme aufwerfen. In diesem Jahrhundert wird das gesamte Sonnensystem von Schwärmen miniaturisierter Sonden mit KI-Fähigkeiten erkundet werden. Und Roboter werden große Strukturen zusammenbauen – zum Beispiel riesige Teleskope oder Sonnenenergiekollektoren –, im Weltraum oder auf dem Mond.

Mit jedem Fortschritt in der Robotik und Miniaturisierung wird der praktische Bedarf an Astronauten immer geringer. Wird es also jemals wieder inspirierende Projekte im Stil von „Apollo“ geben, die Menschen nicht nur zum Mond, sondern auch zum Mars und darüber hinaus bringen? Menschen zum Mars zu schicken, mit Vorräten für sechs Monate und Nachschub für die Rückreise, ist deutlich teurer und gefährlicher als eine Reise zum Mond.

Bis zum Jahr 2100 könnten unerschrockene Abenteuerlustige „Basisstationen“ auf dem Mars errichtet haben. Aber erwarten Sie niemals eine Massenauswanderung von der Erde. Nirgendwo in unserem Sonnensystem ist die Umwelt auch nur annähernd so mild wie in der Antarktis oder auf dem Meeresgrund. Es ist eine gefährliche Illusion, zu glauben, dass der Weltraum eine Flucht vor den Problemen der Erde bietet. Die Bewältigung des Klimawandels auf der Erde ist ein Kinderspiel im Vergleich zum Terraforming des Mars. Es gibt keinen „Planet B“ für gewöhnliche, risikoscheue Menschen.

Aber es liegen noch Milliarden von Jahren vor uns. Die Sonne hat noch nicht einmal die Hälfte ihres Lebens hinter sich, und der Kosmos hat vielleicht noch unendlich viel Zeit vor sich. Wir stehen also vielleicht eher am Anfang als am Ende der Entwicklung einer immer größeren Komplexität im Kosmos. Und für kommende Generationen – die dann im Weltall verstreut sein werden – wird unsere heutige Zivilisation weniger als Steinzeit sein.

Zeitdiagramm in die Zukunft

Die menschlichen Gehirne haben sich kaum verändert, seit unsere Vorfahren die afrikanische Savanne durchstreiften. Es ist sicherlich bemerkenswert, dass diese Gehirne es uns ermöglicht haben, die Quanten und den Kosmos zu verstehen – weit entfernt von der Alltagswelt, in der wir uns entwickelt haben. Nichtsdestotrotz könnten einige Schlüsselmerkmale der Realität jenseits unseres begrifflichen Verständnisses liegen. Es mag Phänomene geben, die für unser langfristiges Schicksal entscheidend sind, die uns aber nicht bewusst sind, genauso wenig wie ein Affe die Natur der Sterne und Galaxien versteht.

Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Maschinen in der nachmenschlichen Ära die Vorherrschaft übernehmen werden. Das liegt daran, dass es chemische und metabolische Grenzen für die Größe und die Verarbeitungsleistung von „nassen“ organischen Gehirnen gibt. Vielleicht sind wir schon nahe an diesen Grenzen.

Aber wir Menschen sollten uns nicht zu unbedeutend fühlen. Auch wenn wir sicherlich nicht der letzte Zweig eines evolutionären Baums sind, könnten wir von besonderer kosmischer Bedeutung sein, um den Übergang zu siliziumbasierten (und potenziell unsterblichen) Wesenheiten zu beschleunigen, die ihren Einfluss weit über die Erde hinaus verbreiten und unsere Grenzen weit überschreiten.

Selbst im Kontext einer „konzertierten“ Zeitlinie – die sich Milliarden von Jahren in die Zukunft wie auch in die Vergangenheit erstreckt – ist dieses Jahrhundert etwas Besonderes. Es ist das erste, in dem eine Spezies – die unsere – die Zukunft unseres Planeten in der Hand hat. Unsere schöpferische Intelligenz könnte den Übergang von einer erdgebundenen zu einer weltraumfahrenden Spezies und von einer biologischen zu einer künstlichen Intelligenz beschleunigen – Übergänge, die Milliarden von Jahren posthumaner Evolution einleiten könnten, die noch großartiger ist als das, was zu uns geführt hat.

Andererseits könnte der Mensch Bio-, Cyber- oder Umweltkatastrophen auslösen, die alle diese Möglichkeiten ausschließen.

Was aber sollte unsere Botschaft an die jüngere Generation sein, die das 22. Jahrhundert erleben wird?

Botschaft

Es ist sicher, dass es kein wissenschaftliches Hindernis für eine nachhaltige Welt gibt, in der alle einen besseren Lebensstil genießen als die Menschen im „Westen“ heute. Wir leben im Schatten neuer Gefahren – aber diese können durch eine Kultur der „verantwortungsvollen Innovation“ minimiert werden, insbesondere in Bereichen wie Biotechnologie, fortgeschrittene KI und Geoengineering. Und durch eine Neuausrichtung der technologischen Anstrengungen der Welt.

Wir können also technologische Optimisten sein. Aber die unlösbar wirkenden politischen und soziologischen Probleme führen zu Pessimismus. Die Forschenden haben die Pflicht, die positiven Anwendungen ihrer Arbeit zu fördern und vor den Schattenseiten zu warnen. Die Universitäten sollten das Fachwissen ihrer Mitarbeitenden und ihre Einberufungsbefugnis zur Verfügung stellen, um zu beurteilen, welche Schreckensszenarien – ökologische Bedrohungen oder Risiken durch falsch angewendete Technologie – als Science-Fiction abgetan werden können und wie man die schwerwiegenden Szenarien am besten vermeidet. Wir in Cambridge haben ein Zentrum eingerichtet, das sich genau mit diesen Fragen beschäftigt.

Kathedrale

Ich schließe mit einer Rückblende – direkt zurück ins Mittelalter. Für die Menschen des Mittelalters erstreckte sich die gesamte Kosmologie – von der Schöpfung bis zur Apokalypse – nur über ein paar Tausend Jahre. Große Teile der Erde waren terra incognita.

Aber sie bauten riesige Kathedralen – mit primitiver Technik von Maurern errichtet, die wussten, dass sie ihre Fertigstellung nicht mehr erleben würden –, prächtige Gebäude, die uns noch Jahrhunderte später inspirieren.

Unser räumlicher und zeitlicher Horizont hat sich inzwischen enorm erweitert, dennoch planen wir nicht Jahrhunderte im Voraus. Das scheint paradox. Aber es gibt einen Grund dafür. Das mittelalterliche Leben spielte sich vor einer Kulisse ab, die sich von Generation zu Generation kaum veränderte. Die Menschen waren zuversichtlich, dass ihre Enkelkinder die fertige Kathedrale zu schätzen wissen würden. Doch anders als für sie wird sich das nächste Jahrhundert für uns drastisch von dem jetzigen unterscheiden. Wir können es nicht vorhersehen, also ist es auch schwieriger, dafür zu planen. Es besteht eine große Diskrepanz zwischen den immer kürzeren Zeiträumen des sozialen und technischen Wandels und den Zeiträumen von Milliarden von Jahren in Biologie, Geologie und Kosmologie.

Dieser „blassblaue Punkt“ im Kosmos ist ein besonderer Ort. Es ist vielleicht ein einzigartiger Ort. Und wir sind seine Verwalter in einer besonders wichtigen Zeit. Das ist eine wichtige Botschaft für uns alle.

Wir müssen global denken, wir müssen rational denken, wir müssen langfristig denken – wir müssen „gute Vorfahren“ sein, die durch die Technologie des 21. Jahrhunderts gestärkt werden, aber von Werten geleitet werden, die die Wissenschaft allein nicht bieten kann.

Beiträge für die Gesundheitsversorgung kann nur leisten, wer die Zukunft im Blick hat.

Aber wie viel haben wir schon im Blick?

Von
Martin Rees

 

Martin Rees
(Lord Rees of Ludlow, OM, FRS)

  • Königlicher Astronom des Vereinigten Königreichs
  • Lebt an der Universität Cambridge, wo er Fellow (und ehemaliger Master) des Trinity College ist
  • Ehemaliger Präsident der Royal Society und Mitglied zahlreicher internationaler Akademien
  • Forschungsinteressen: Weltraumforschung, Hochenergie-Astrophysik und Kosmologie
  • Mitbegründer Centre for the Study of Existential Risk an der Universität Cambridge (CSER)
  • Publikationen: neben Forschungsliteratur zahlreiche allgemeine Artikel und zehn Bücher, darunter: „On the Future: Prospects for Humanity“, „The End of Astronauts“ und „If Science is to save us“. Einige seiner Bücher sind in deutscher Übersetzung erschienen
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