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Von der Evolution einer Spitzentechnologie

XTRA-ARTIKEL AUSGABE 2/2023

Healthcare 
— 2033

Im 55. Jahr der Durchflusszytometrie setzt die neue XR-Serie von Sysmex einen weiteren Meilenstein in der Entwicklung der Hämatologie-Analyser. Sysmex Geschäftsführer Matthias Guhl blickt im Interview zurück – und nach vorn

Fotos: Phillip Schindhelm

„Das war alles noch ein bisschen Garage“, erinnert sich Matthias Guhl an die Zeit, als er nach Abschluss des Studiums der Elektrotechnik bei Sysmex eingestiegen war. Der im japanischen Kobe gegründete Hersteller von Medizinprodukten hatte gerade eine EMEA-Zentrale in Deutschland gegründet, an der nördlichen Stadtgrenze von Hamburg. Das noch junge Unternehmen teilte sich damals mit einer Heizungsfirma Gebäude und Lagerräume. Sysmex war zu der Zeit als Anbieter von In-vitro-Diagnostik-Technologien in Europa noch nahezu unbekannt. Im Kalender stand das Jahr 1993, eine Zeit, in der sich der Trend zur Automation in der Routinediagnostik gerade rasant auszubreiten begann.

Für Guhl, der als technischer Spezialist für Automation und Software eingestellt worden war, begann vom ersten Arbeitstag an eine ereignisreiche Zeit: „Wir sind damals mit Kolleginnen und Kollegen durch ganz Europa gereist, um in großen hämatologischen Laboren die ersten Automationsstraßen samt Steuerungs- und Workflow-Softwaresystemen zu installieren“, erinnert er sich. Mit den ersten Fluoreszenz-Durchflusszytometern für die erweitere Hämatologie nahm die Entwicklung noch weiter an Fahrt auf. „Die ersten Hämatologiegeräte mit Halbleiterlaser waren 1995 das SF-300 und bald danach das Flaggschiff XE-2100, das uns mit seiner analytischen Qualität und Robustheit half, viele Labore von unserer Technologie zu überzeugen.“

Nach drei Jahrzehnten kontinuierlicher Weiterentwicklung hat die Technologie nun ein weiteres Level erreicht. Mit dem Launch der aktuellen XR-Serie hat Sysmex jetzt ein weiteres Referenzsystem für die hämatologische Labordiagnostik an Bord. Matthias Guhl, der heute Geschäftsführer von Sysmex Deutschland ist, erinnert sich, welche Rolle bei dieser Entwicklung die Integration der Durchflusszytometrie gespielt hat mit der Fähigkeit, eine hochgradig effiziente Analytik in Bezug auf Parameterzahl und Durchsatz zu erreichen – und wie sie zu einer fortwährenden Evolution der Spitzentechnologie beiträgt.

Die für die hämatologische Analyse essenzielle Durchflusszytometrie ist jetzt 55 Jahre alt. Unter welchen Umständen wurde sie eigentlich erfunden?

Ich hatte das Glück, den Erfinder der fluoreszenzbasierten Durchflusszytometrie persönlich kennenzulernen. Und zwar handelt es sich um Prof. Dr. Wolfgang Göhde, den Gründer der Firma Partec GmbH – heute eine Sysmex Tochterfirma –, bei der ich zwischenzeitlich als Geschäftsführer tätig war. Es war so, dass Anfang der 60er-Jahre bereits Methoden bekannt waren, mit denen zwischen gesunden und Tumorzellen unterschieden werden konnte. Diese waren allerdings teuer und zeitraubend. Pro Zelle wurden damals etwa anderthalb Stunden veranschlagt. Göhde hatte, als er in den 60er-Jahren die wegweisende Technologie der fluoreszenzbasierten Durchflusszytometrie erfunden hatte, erst drei Jahre zuvor sein naturwissenschaftliches Studium abgeschlossen. Er dachte damals nicht einmal an eine kommerzielle Nutzung, sondern brauchte das Verfahren schlicht für seine Arbeit. Das Ergebnis: Mit seiner Erfindung konnten pro Sekunde knapp 1.000 Zellen vermessen und zugeordnet werden. Aus Göhdes Idee und unter der Firmierung Partec entstand später ein kompaktes Gerät, das sehr viele Untersuchungen, beispielsweise lebenslang notwendige Bluttests bei Aidskranken, einfacher und billiger machte. Und so gelang es, etwa in Afrika, auf einen Schlag viel mehr Menschen zu helfen.

Wie funktioniert die fluoreszenzbasierte Durchflusszytometrie eigentlich genau? Was macht sie so bedeutsam?

Wir sprechen hier von einem universellen Messverfahren, das auf der Messung von optischen Signalen einer mit Fluoreszenzfarbstoffen angefärbten Zelle basiert, die von einem Laserstrahl getroffen wird. Die dabei entstehenden Streulicht- und Fluoreszenzsignale werden von einem Detektor und Elektronik ausgewertet und digitalisiert. Das Ergebnis sind dann sehr genaue Informationen über die Beschaffenheit jeder einzelnen analysierten Zelle. Heute ist die Durchflusszytometrie eine anerkannte Methode der Routinediagnostik. Nicht nur in der Hämatologie, Infektiologie, Immunologie und Urin-Sedimentdiagnostik, sondern auch in der biomedizinischen Forschung, der Biotechnologie sowie in verschiedenen Bereichen der Industrie.

Sie haben der Durchflusszytometrie einmal den Durchbruch-Charakter der Computermaus attestiert …

Übrigens wurde auch die erste Computermaus 1968 erfunden und hat die Interaktion mit dem Computer grundlegend verändert. Sie ist vielleicht ein passender Vergleich zur Durchflusszytometrie. Die heutige Computermaus ist zwar im Grundprinzip immer noch wie damals eine zweidimensionale Richtungssteuerung für die Eingabe in grafischen Benutzeroberflächen, aber die technische Umsetzung und die vielfältige Anwendbarkeit sind heute mit der von damals nicht zu vergleichen.

Und wie kam bei der Technologie schließlich Sysmex ins Spiel?

Sysmex hat schnell erkannt, dass es sich bei der fluoreszenzbasierten Durchflusszytometrie um eine Technologie handelt, die das Personal in Laboren entlasten und die Gesundheitsreise von Patientinnen und Patienten revolutionieren kann. Mit seiner Kenntnis des Marktes, aber auch einer guten Intuition und der Unterstützung des Mutterkonzerns in Japan wurde der Fokus schnell auf die Produktion eigener durchflusszytometrischer Systeme gesetzt. Als sich dann der Trend zur Automation in den Laboren mehr und mehr durchsetzte, wuchs auch die Nachfrage nach vollautomatischen Analysesystemen kontinuierlich. In kurzer Zeit eine maximale analytische Effizienz zu erreichen, das war etwas, das mehr und mehr an Attraktivität gewann. Das Problem an der Technologie war anfangs allerdings noch, dass sie relativ teuer war. Das lag vor allem an den Neon-Argon-Lasern, die damals noch in den Geräten verbaut waren und die den zusätzlichen Nachteil hatten, dass sie nur ein Jahr hielten und außerdem viel zu groß waren. Sysmex war die erste Firma, die 1995 mit dem SF-300 erste Halbleiterlaser in diagnostische Routine-Durchflusszytometer einbaute, die bis dahin nur in CD-Playern verbaut waren. Diese stellten eine kostengünstige Alternative dar und so wurde die Technologie überhaupt erst routinetauglich. Als Sysmex 2013 dann die Firma Partec übernommen hat, erschlossen sich für uns viele weitere neue Anwendungen und Märkte. Hier startete unser Einstieg in die klinische Durchflusszytometrie.

Gab es denn noch weitere Meilensteine, die die Technologie zu dem gemacht haben, was sie heute ist?

Ein wichtiger Innovator ist in diesem Zusammenhang auch Prof. Dr. Reinhard Thom, der seinen Beitrag zum Durchbruch geleistet hat, indem er 1970 das Sheath-Flow-Verfahren erfand. Mit diesem löste er das Problem der Orientierung der Zellen beim Durchtritt durch die Messzelle und erhöhte so deutlich die Messpräzision. Insgesamt lässt sich sagen, dass es viele Meilensteine gegeben hat, die die ursprüngliche Technik aus den 60er-Jahren zu dem gemacht haben, was sie heute ist. Dazu gehören die technologische Entwicklung der Halbleiterlaser, Innovationen aus den Bereichen Software, Elektronik und Fluidik, Biomedizin sowie auch der klinischen Forschung.

Sysmex verbessert seine Technologien in festen Rhythmen, richtig?

Ja, das stimmt. Alle fünf Jahre gibt es üblicherweise neue Geräte und alle zehn Jahre große Innovations- und Technologiesprünge. Um diese Veränderungen kontinuierlich durchführen zu können, ist es für uns grundlegend, den Kundinnen und Kunden zuzuhören, Bedürfnisse wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Sysmex hat sich auf der ganzen Welt schnell einen Namen gemacht, da unser Mutterhaus in Japan seit jeher in der Lage war, innovative und qualitativ zuverlässige Geräte zu entwickeln und zu produzieren. Was uns außerhalb von Japan stark macht, ist das Engagement unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der starke Wille, jeden Tag die besten Produkte und Dienstleistungen für unsere Kundinnen und Kunden bereitzustellen. Unser Ziel ist es aber auch, mit unseren innovativen Produkten Menschen zu helfen und den Fortschritt in der Gesundheit mitzugestalten. Das ist die Basis unseres Unternehmens, die uns in unserem täglichen Handeln motiviert, und das zeichnet uns als Mitarbeitende von Sysmex aus.

Wie erfahren Sysmex Entwickler in Japan überhaupt von Kundenwünschen in anderen Ländern?

Viel direkter, als viele glauben. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich selbst in Japan war, um bis tief in die Nacht hinein, zur Not beim Karaoke, unsere Entwicklungsingenieure von unseren Kundenanforderungen und Wünschen zu überzeugen. Man hat uns dabei immer viel Vertrauen entgegengebracht, gut zugehört und die Geräte kontinuierlich weiterentwickelt.

„Die Fähigkeit der Durchflusszytometrie, in kurzer Zeit eine maximale Analysedichte zu erreichen, brachte die Routinediagnostik auf ein ganz anderes Niveau“

Matthias Guhl

Welche Innovationen stecken heute in durchflusszytometrischen Sysmex Systemen, die man vielleicht von außen gar nicht sieht?

Es hat sich seit Wolfgang Göhdes Erfindung in den 60er-Jahren sehr viel getan. Die Palette der Antikörper und Farbstoffe entwickelt sich stetig weiter. Das erlaubt eine immer präzisere und umfangreiche Erkennung und Interpretation zum Beispiel des Reifegrads und der Aktivierung der Zellen bei reaktiven oder malignen Geschehen. Elektronik und Software erlauben eine automatisierte und noch viel schnellere Abarbeitung und standardisierte Ergebnisinterpretationen auf Basis einer Fülle von Informationen nahezu in Echtzeit. Heutige Analysesysteme liefern Ergebnisse für eine Vielzahl an zellbasierten Biomarkern nach nur wenigen Sekunden. Dank vieler und umfangreicher Studien ist die Bedeutung bestimmter zellbasierter Biomarker in der klinischen Praxis bestätigt. Und das geht weit über das große Blutbild hinaus. Es erlaubt etwa die Einordnung einer Anämie bei Intensivpatienten, die Detektion einer Akute-Phase-Reaktion, das Monitoring von antimikrobiellen Therapien sowie die Diskriminierung zwischen bakteriellen und viralen Infektionen sowie aseptischen Entzündungsreaktionen. Die Geschwindigkeit, Genauigkeit, Qualität und Anwendung der Technologie haben sich stetig verbessert.

Und jetzt ist ganz neu die XR-Serie auf den Markt gekommen. Was dürfen Labore erwarten?

Die XR-Serie liefert hochwertige diagnostische Unterstützung in kürzester Zeit durch einen optimierten Workflow, der nicht nur das Laborpersonal, sondern auch die behandelnden Ärztinnen und Ärzte unterstützt. Die neue XR-Serie ist eine Weiterentwicklung der Modularität, die mit der sehr erfolgreichen XN-Serie eingeführt wurde. Es werden neue modulare Bestandteile verfügbar sein, die die tägliche Routine noch müheloser machen. Aber auch das Analysemodul selbst wurde weiterentwickelt, für noch schnellere und zuverlässigere Ergebnisse. Es gibt weitere Automationskomponenten und aktualisierte Software-Features. Die Automatisierungskomponenten – Hardware und Software – interagieren auf intelligente Weise, um einen möglichst produktiven Workflow zu schaffen, Scattergramme können nun dreidimensional beurteilt werden und vieles mehr.

Womit ist in der Zukunft zu rechnen?

Künstliche Intelligenz wird in der Zukunft sicher eine große Rolle spielen. Im Bereich Digital Imaging kann KI bei der Bilderkennung unterstützen und Zellen im Ausstrich erkennen. Mit unserem Digital Imaging System für die Zellmorphologie sind wir schon auf dem Weg dahin.

Auch Miniaturisierung ist ein wichtiger Trend, der der Forderung nach kleineren Probenmengen Rechnung trägt. Durch automatische Reflextests werden erweiterte Analysen durchgeführt. Dies ist möglich am gleichen Analysesystem, zum Beispiel, um den hämatopoetischen Status genauer zu beleuchten. Für weitere Untersuchungen, beispielsweise Hba1c, kann die Probe vollautomatisch an ein angebundenes Analysesystem weitergeleitet werden. Schon heute entsprechen unsere Produkte der Nachfrage nach Stufendiagnostik. Ein wichtiges Thema wird außerdem die Erweiterung der Modularität in Form neuer Komponenten, die Intelligenz der Schnittstellen wird steigen – sie werden einfacher, selbstlernend. Die Digitalisierung und Vernetzung von Prozessen werden zunehmen, sicher auch unterstützt durch die Möglichkeiten der Robotik.

Interview: Melanie Steffens


Zur Person

Matthias Guhl ist nach seinem Elektrotechnikstudium als technischer Spezialist für Automation und Software bei Sysmex eingestiegen. Nach verschiedenen beruflichen Stationen in Vertrieb und Marketing in der europäischen Sysmex Zentrale sowie der deutschen Niederlassung wechselte er 2013 als Geschäftsführer zur Partec GmbH, einem Entwicklungs- und Produktionsstandort für durchflusszytometrische Geräte und heutigen Sysmex Tochterunternehmen. Seit 2017 ist er einer der Geschäftsführer der Sysmex Deutschland GmbH


Meilensteine

Hämatologische Analysesysteme, die mit Durchflusszytometrie arbeiten

1975 Launch des CC-710, des ersten vollautomatischen Hämatologie-Analysesystems (in Japan)
1983 hydrodynamische Fokussierung
1991 erste Automationslinie mit HST-Expertline
1995 SF-3000, der erste Hamätologie-Analyser mit Halbleiterlaser
1999 weltweit erstes Fluoreszenz-Durchflusszytometer XE-2100 (in der Hämatologie)
2011  Modularität und Skalierbarkeit durch XN-Serie
2023 XR-Serie

 

 

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