„Bei Sepsis zählt jede Stunde“
XTRA-ARTIKEL AUSGABE 1/2022
Interview mit PD Dr. Matthias Gründling
Gefahr Sepsis, ein Notfall wie Schlaganfall oder Herzinfarkt – entscheidend ist das frühe Erkennen. Warum bei der Rettung vor Sepsis die Haltung in den Kliniken entscheidend ist, das berichtet der Intensivmediziner Dr. Gründling
Text: Diana Grell
Herr Dr. Gründling, an Sepsen versterben in Kliniken immer noch viele Menschen. Was können wir besser machen?
Wenn der Notfall Sepsis genauso ins Bewusstsein kommt wie der Notfall Schlaganfall, Herzinfarkt oder Polytrauma, ist viel gewonnen. Dann wäre eine schnellere Diagnostik und Therapie möglich, was wiederum die Sterblichkeit reduzieren würde. Das ist aus medizinischer Sicht der Schlüssel zum Ganzen, denn bei Sepsis zählt jede Stunde.
Wie lässt sich der Ansatz in Kliniken umsetzen?
Wichtig ist, mit relativ geringem Aufwand einen großen Nutzen zu erreichen. Hier an der Uniklinik in Greifswald gelingt das, einfach indem das gesamte Pflegepersonal weiß, wie man eine Sepsis erkennt. Die Pflegenden erkennen frühe Anzeichen, typische Symptome und haben das bei den Patienten im Blick. Dafür gibt es eine speziell geschaffene Struktur in der Krankenpflege. Wir haben eine Pflegekraft, die regelmäßig Schulungen im Klinikum durchführt, sie erfasst die Qualitätsparameter und ist ermächtigt, selbstständig Blutkulturen abzunehmen und dann den Arzt zu informieren.
Sind Antibiotikaresistenzen ein weiterer Grund für die hohe Sterblichkeit?
Eigentlich nicht. Die Schwierigkeit liegt darin, das Thema entsprechend zu priorisieren und die unspezifischen Symptome einzuordnen. Die Therapie ist dann einfach. Man muss schnell ein Antibiotikum geben oder sehr schnell den Infektionsherd beispielsweise durch eine chirurgische Maßnahme sanieren. Das ist relativ klar und unproblematisch, und in Deutschland ist es zum Glück so, dass die Resistenzen nicht das Thema sind.
Warum wird oft zu spät an eine Sepsis gedacht?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Eine alte Dame kommt in die Notaufnahme und ist verwirrt. Dann wird meist an eine neurologische, psychiatrische Ursache, an eine Elektrolytverschiebung oder daran gedacht, dass die Patientin zu wenig getrunken hat. Aber man muss eben auch an die Sepsis denken und dann entsprechende Laborparameter messen und die klinische Untersuchung darauf ausrichten.
Würde ein Parameter oder Score helfen, der eine Sepsis anzeigt?
Ein Parameter, der relativ wahrscheinlich auf die Sepsis hinweist oder sie anzeigen kann, ist natürlich etwas, das jede Klinik gern hätte. Aber auch der setzt voraus, dass vorher jemand daran gedacht hat, ein Blutbild abzunehmen. Denn wenn ich glaube, dass es sich um eine neurologische Erkrankung handelt, werde ich eben diese Untersuchung gar nicht beauftragen.
Kann ein Sepsis-Score die Diagnostik auf der Intensivstation erleichtern?
Ja, absolut. Auf der Intensivstation liegen die unterschiedlichsten Menschen, und alle können eine Sepsis entwickeln. Vielleicht zunächst mit ein bisschen Fieber, dann verschlechtern sich die Laborwerte etwas, dann zeigt sich eine Oligurie oder die Patienten reden wirres Zeug. Das sind alles Hinweise, aber so eindeutig ist es nicht. Und dann muss man sich vorstellen, dass es eine enorme Menge von Messwerten gibt und es schwierig ist, alles rechtzeitig wahrzunehmen. Und so kommt man zu dem Punkt, dass man diese Daten zusammenführt. Dann reicht eine elektronische Auswertung, die daraufhin einen Sepsis-Alarm meldet.
Worauf kommt es bei einem solchen Score an?
Wenn es hochkomplexe Parameter sind, die nur Speziallabore bestimmen können, ist das problematisch. Wenn es aber etwas Einfaches ist, das in jedem Krankenhaus gemessen werden kann, dann ist es perfekt. Genauso ist es bei der mikrobiologischen Diagnostik. Ich hatte gesagt, dass man immer Blutkulturen entnehmen muss, um den Sepsiserreger zu identifizieren. Das hat den Vorteil, dass die Antibiotikatherapie auf den tatsächlichen Keim eingeengt werden kann. Es gibt aber ganz viele Kliniken, die überhaupt keine Mikrobiologie vor Ort haben. Das verlangsamt die Notfalldiagnostik natürlich.
Dr. Matthias Gründling ist Facharzt für Anästhesiologie an der Uniklinik Greifswald. Er leitet seit 2006 das Qualitätsmanagementprojekt Sepsisdialog und die Arbeitsgruppe Klinische Sepsisforschung an der UK Greifswald und unterstützt die Initiative #DeutschlandErkenntSepsis