Zaubersprüche
XTRA-ARTIKEL AUSGABE 2/2022
Wir können alles schaffen, wenn wir es nur wollen. Und genug Resilienz entwickeln, um Krisen zu bestehen. Wirklich?
Text: Stephan Wilk
„Yes We Can.“ Wer erinnert sich nicht an die geflügelten Worte, sinngemäß übersetzt mit: „Ja, wir schaffen das“, aus dem im Jahr 2008 geführten Wahlkampf des früheren US-Präsidenten Barack Obama? Doch Obama war bei Weitem nicht der erste, der vom großen Können (durch Wollen) träumte. Die Beatles sangen in ihrem Welthit „All You Need Is Love“ schon 1967 „There’s nothin’ you can do that can’t be done“, und fünf Jahre später, 1972, ließen die legendären US-amerikanischen Landarbeitergewerkschafter Chavez und Huerta ihre Anhänger „Yes We Can“ skandieren. In den 80ern nutzte der Kinder-Cartoon-Charakter Bob der Baumeister den Spruch auf seine Weise, bevor die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrem berühmtesten Zitat „Wir schaffen das“ im Jahr 2015 unbeabsichtigt das Ende ihrer Kanzlerschaft einläutete.
Resilienz. Ein Begriff, der Ähnliches meint, ist aus der Wissenschaft in den populären Gebrauch übersiedelt. Die Fähigkeit der Menschen, ihre psychische Gesundheit trotz widriger Lebensumstände aufrechtzuerhalten oder sie nach einer Krise sogar zurückzugewinnen, wird in der Psychologie und Medizin als Resilienz beschrieben. „Vertrau auf dich, du schaffst das“, lautet der Zauberspruch des aktuellen Zeitgeists, wenn es darum geht, immer wieder aufs Neue mit Umbrüchen im Leben klarzukommen. Aber auch Lieferketten, Geschäftsmodelle oder das Gesundheitswesen sind heute gefordert, Resilienz zu zeigen.
Es gibt Worte, die sind so häufig im Gebrauch, dass man sie nicht mehr hören mag. Google listet zum Suchwort Resilienz aktuell fast 10 Millionen Einträge. Und da ist einer, der kräftige Zweifel hegt an den Konzepten von Alleskönnen und umfassender Widerstandskraft. Der Psychologe, Anglist und Autor Leon F. Seltzer hat vor Kurzem in einem seiner Blog-Beiträge für „Psychology Today“ erklärt, warum es sinnvoll sein kann, nicht alles können oder bewirken zu wollen, sondern seine Grenzen zu bejahen. Und Seltzers Stimme hat Gewicht. Einzelne seiner Blogbeiträge wurden bis zu 45 Millionen Mal aufgerufen.
Grenzen zu bejahen – das mag heute fast schon reaktionär erscheinen. So gut wie jeder Beitrag, der sich mit dem Erreichen von Zielen befasst, ermutigt dazu, aus vermeintlichen Komfortzonen auszubrechen oder Hürden zu nehmen, die man angeblich selbst errichtet hat. Aber machen wir uns nichts vor, im Leben gibt es viele Momente, in denen sich hochfliegende Ideale der Realität beugen müssen. Es gibt Zeiten und Situationen, die es dem Menschen abverlangen, sich mit Zwängen abzufinden, die sich zwar als unerwünschte, wohl oder übel aber dauerhafte Wegbegleiter erweisen. Vielleicht sollten wir Beschränkungen, die genetisch oder vom Temperament her gegeben sind, eher als natürliche Grenzen akzeptieren denn als Mühlsteine am Hals, die man widerwillig mitschleppt.
Wenn wir wieder lernen, Unzulänglichkeiten nicht nur zu tolerieren, sondern deren existenzielle Tatsache zu akzeptieren, werden wir freier von Stress, Angst und Zweifeln und finden vielleicht so breiter abgestützte Antworten und Lösungen. An Herausforderungen mangelt es in diesen durch Pandemien, Klimakatastrophen, geopolitische und wirtschaftliche Umbrüche gekennzeichneten Tagen keineswegs – ob der Schönwetterschlachtruf „Yes We Can“ genügt, das sollten wir in Zweifel ziehen.
Illustration: Katrin Rodegast